Gazmend Freitag, Lisa Grüner
KUNST &
FLUCHT. EIN FLUCH.
Sie finden sich plötzlich an einem
Abstellgleis wieder, sie sitzen da und wissen nicht wohin. Es spielt auch keine
Rolle, denn sie haben kein Ziel vor sich.
Sie tragen seit zwei Wochen das, was sie am Tag ihrer Flucht, anhatten,
zum Umziehen oder Packen blieb keine Zeit. Sie tragen Markenkleidung und
normale Schuhe. Sie sehen nicht aus, wie jemand, der fluchtartig sein Zuhause
verlassen hat. Sie hatten überhaupt nicht viel Zeit, darüber nachzudenken, was
sie denn jetzt anziehen könnten, als es plötzlich hieß, nichts wie weg. Sie ließen alles
hinter sich, alles was sie in ihrem Leben geschaffen hatten. Das war nicht
viel, aber für sie war es wertvoll. Ein ganzes Leben, viele persönliche Dinge,
Zeugen besonderer Momente, Geschenke, Erbstücke, all ihre Werke, Zeichnungen
und Malereien. Alles, alles blieb zurück, einem unbestimmten Schicksal
ausgesetzt. Jetzt hier im
Dunkeln gibt es nichts außer dem Moment. Sie sind zu zweit, allein mit sich.
Müde, leer und mit einem dumpfen Gefühl im Magen. Es könnte Hunger sein, aber
auch tiefe Trau-rigkeit, die langsam hochsteigen will. Es ist besser es zu
ignorieren. Sie gar nicht erst hoch-kommen zu lassen. Immerhin haben sie sich.
Das einst strahlende Künstler-Paar, das großartige Bilder kreierte, tolle
Ausstellungen organisierte und zu allen wichtigen Empfängen eingeladen war, das
gemeinsam lachte und weinte und emotionale Momente in ihren Bildern festhielt.
Was wohl aus ihren
Bildern geworden war? Was war aus ihnen geworden? Waren sie jemandem in die
Hände gefallen, der sie gleich zerstörte, ohne zu begreifen, wieviel Schicksal,
wieviel Zeit, wieviel Gefühle er in den Händen hielt? Hatte sie jemand
gefunden, der sie achtsam auf die Seite stellte und sie genau vor jenen zu
schützen, die sie einfach zerstören würden? Was war mit dem Schmuck der
Großmutter geschehen, den Kinderfotos, mit all den anderen Erinnerungen, die
sie aufbewahrt hatten? Jetzt in ihrer
einsamsten Stunde, kommen die Erinnerungen und ziehen wie Nebelschwaden in
ihnen vorbei, wie Blitzlichter. Sie erinnern sich an die guten Tage und finden
sich wieder im Hier und Jetzt. In einem Land dessen Sprache sie nicht
verstehen, dessen Essen sie schlecht vertragen, wo sie niemand kennt noch
beachtet. Vor einigen Wochen waren sie noch wer, hatten einen Status, eine
Identität. Jetzt sind sie nur noch Namen und eine Nationalität. Sie sind doch
noch die gleichen, aber es scheint so weit weg, wie in einem früheren Leben. Immerhin
haben sie sich. Sie lehnt ihren Kopf an seine Schulter und weint leise vor sich
hin. Er versucht, möglichst viel Zuversicht auszustrahlen. Immerhin, leben sie
ja noch. Sie hatten schon einmal von Null angefangen. Warum nicht jetzt noch
mal. Sie war eingeschlafen. Auch er schlief ein. Und irgendwann schlief die
ganze Stadt. Da breitete sich Frieden aus. Denn es war der Augenblick gekommen,
an dem niemand ihnen noch etwas nehmen konnte. Sie hatten nur mehr sich, ihre
Geschichte und ihre Talente. Also klammerten sie
sich an die Zuversicht, dass alles nur mehr besser werden konnte. Irgendwann.
Als ein plötzlicher Regenguß sie bis auf die Haut durchnäßte.
© Lisa Grüner
Lisa Grüner ist Künstlerin und Autorin in Wien ____________________
24.10.2015 | Mag. Lisa Grüner: Unser
künstlerischer Beitrag zur Flüchtlingsthematik
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